Leseproben
„Jesus heilt den Blinden“
Oberdüssel
Kirche der Bergischen Diakonie Aprath
Bergische Diakonie Aprath im Sommer 1930. Der Direktor, Pastor Paul Erfurth, bekommt Post von einer noch jungen Psychiaterin. Es ist Dr. Hedwig Schottky, die vor einiger Zeit in der Anstalt gewesen ist (vermutlich zur Absolvierung einer Ausbildungsstation). Lange hat man nichts von ihr gehört. Mittlerweile steht sie in Lohn und Brot und ist außerdem mit einem Berufskollegen verheiratet. Nun meldet sie sich mit einem handfesten Angebot zurück. In offenbar angenehmer Erinnerung an ihre Zeit in der Anstalt will sie eine aus Stein gehauene, ungefähr lebensgroße Christusfigutr stiften als Zutat zu der kleinen eigenen Kirche, welche die Diakonie sich auf ihrem Gelände errichtet hat. Hedwig Schottky hat genaue Vorstellung, wo die Figur hingehört: sie soll im Freien zur Aufstellung kommen, in der Nähe zur Kirchentür.
Das "Denkmal", wie das angedachte Standbild von ihr auch genannt wird, soll von dem Münchner Bildhauer Wilhelm von Rechenberg, mit dem ihr Mann befreundet ist, geschaffen werden. Es handle sich um einen verhältnismäßig jungen Künstler, aber um einen mit viel Aussichten. Pfarrer Erfurth nimmt hocherfreut an. ...
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1931: Taufstein
München-Westend
Auferstehungskirche
Wilhelm von Rechenberg gelingt mit diesem Taufstein-Debüt ein wuchtiger, vielbeachteter Aufschlag in der Kirchenkunstszene. Im Mai 1935 schreibt die Zeitschrift "Kirche und Kunst" über ihn:
"Ein Stil, der Klarheit und Ruhe der Form mit starkem geistigen Gehalt zu verbinden sucht. Das Bemühen nach harmonischer Vereinigung, ja völliger Durchdringung des Körperlich-Formhaften und des Innerlich-Geistigen gibt den Arbeiten des jungen Künstlers bereits eine merkwürdige Reife."
Die Figuren um den Taufstein sind schwach im Relief ausgeführt, doch Wilhelm von Rechenberg versteht es, ihre Konturen im Umgang mit der Steinmaterialität so zu arbeiten, dass sie, obschon dicht an dicht platziert, im Licht- und Schattenspiel bis in die Ferne eine starke, eindringlich plastische Wirkung erzeugen, die den Betrachter in ihren Bann nimmt.
Diese bildhauerische Leistung wird zum Grundstein einer gefestigten Zusammenarbeit mit dem seinerzeitigen Star-Architekten German Bestelmeyer. 1938 jedoch mischt sich mit Macht der Nazismus ein, und vorzeitig trennen sich die Wege wieder.
Taufstein Auferstehungskirche München-Westend, Detail "Taufe Jesu"
1956: Wandbrunnen-Tympanon
„Jakob trifft Rahel am Brunnen“
Rottenburg am Neckar
Priesterseminar der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Das Tympanon über dem Wandbrunnen, nach dem Stand der Kenntnis das allerletzte skulpturale Werk von Wilhelm von Rechenberg, erinnert noch einmal an die Formensprache seiner 1930er Jahre. Es bezieht sich auf eine Erzählung im Alten Testament, nämlich wie Jakob, der Grund hat, sich einstweilen zu verdrücken, auf dem Weg zu seinem aramäischen Onkel zufällig seiner künftigen Frau, der Hirtin Rahel, begegnet.
Jakob, der zum Stammvater aller Israeliten, aller 12 Stämme werden wird, verliebt sich auf der Stelle in Rahel. Und obschon es, um seine 12 Söhne zu zeugen, auch die ihm durch Betrug untergeschobene weitere Ehefrau Lea brauchen wird und obendrein 2 Kebsfrauen – eine jede der wetteifernden Ehefrauen wird zur Überbrückung je einer Fruchtbarkeitspause ihre Magd vorschieben – bleibt Rahel die große Liebe seines Lebens.
Rachel – wie sie auch geschrieben wird – zählt im Judentum zu den „Erzmüttern“ und trägt deutliche Züge einer Muttergottheit des antiken Palästina; es verwundert daher nicht, dass sie auch von Muslimen verehrt wird – wenn es ihnen aktuell auch verwehrt ist, an ihrem Grab nahe Bethlehem zu beten. Ihr Name bedeutet Schoß, Mutterliebe oder Erbarmen; die zugehörige totemistische Gestalt ist das göttliche Mutterschaf, Mutter des heiligen Lamms, ein wichtiges Symbol früher hebräischer Stammesmütter [Nachweise...]
Im Judentum steht Rachel auch als Symbol für Israel und seine Trauer um den von ihrem Sohn Ephraim begründeten Volksstamm, der aus der assyrischen Gefangenschaft nicht zurückkehrte: „Rachel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen“ (Jer 31,15). 'Feministisch' wird Rachel im Judentum heute begriffen als weiblicher, toleranter, mit-leidender Blick auf die Welt und die Stellung des Menschen in ihr [Nachweis], was der biblischen Figur erneut muttergottheitliche Züge zuweist.
Hier nun die biblische Erzählung, auf welche das Wandbrunnen-Tympanon Bezug nimmt, eine Geschichte, in der es ebenfalls um einen Brunnen geht:
"Jakob machte sich auf und zog weiter ins Land der Söhne des Ostens. Eines Tages sah er einen Brunnen auf freiem Feld. Dort lagerten drei Herden von Schafen und Ziegen; denn aus dem Brunnen tränkte man die Herden. Ein großer Stein lag über der Brunnenöffnung. Wenn sich dort alle Herden eingefunden hatten, schob man den Stein von der Brunnenöffnung und tränkte das Vieh. Dann schob man den Stein wieder zurück an seinen Platz über der Brunnenöffnung.
Jakob fragte die Leute dort: Meine Brüder, woher seid ihr? - Aus Haran, antworteten sie. Da sagte er zu ihnen: Kennt ihr Laban, den Sohn Nahors? - Ja, wir kennen ihn, antworteten sie. Weiter fragte er sie: Geht es ihm gut? Sie entgegneten: Ja, es geht ihm gut. Aber da kommt gerade seine Tochter Rahel mit der Herde. Da sagte er: Es ist noch mitten am Tag und nicht die Zeit, das Vieh zusammenzutreiben. Tränkt doch die Tiere, dann geht, und weidet weiter! Da sagten sie: Das können wir nicht, bevor nicht alle Herden sich eingefunden haben. Erst dann kann man den Stein von der Brunnenöffnung wegschieben und die Tiere tränken.
Während er sich noch mit ihnen unterhielt, war Rahel mit der Herde, die ihrem Vater gehörte, eingetroffen; denn sie war Hirtin. Als Jakob Rahel, die Tochter Labans, des Bruders seiner Mutter, und dessen Herde sah, trat er hinzu, schob den Stein von der Brunnenöffnung und tränkte das Vieh Labans, des Bruders seiner Mutter. Dann küsste er Rahel und begann laut zu weinen." (Gen 29, 1-11).
Ohne zu kommentieren, berichtet die Geschichte nüchtern: Jakob, als er Rahels ansichtig wird, versucht die anderen Hirten wegzuschicken, offenbar um mit ihr allein zu sein. Als dies misslingt, wagt er es Rahels wegen, vor den Augen der Hirten deren Tabu zu brechen, indem er den Stein beiseite schiebt, zur Unzeit beiseite schiebt extra für Rahels Herde. Schließlich vollzieht er vor aller Augen einen Rollenwechsel, indem er das Tränken der Tiere nicht Rahel überlässt, sondern es ihr abnimmt.
Wandbrunnen-Tympanon
Priesterseminar Rottenburg a.N.
Wilhelm von Rechenberg beschränkt sich mit diesem Tympanon nicht einfach darauf, die biblische Geschichte mit seinen Mitteln nachzuerzählen. Spürbar sind die Bildelemente mit Bedeutung sehr aufgeladen und stark symbolhaft. Unüberhörbar lädt das Bildnis ein, mit ihm in Zwiesprache zu gehen:
In der Darstellung des Künstlers ist Rahel nicht einfach die Geküsste, wie die biblische Erzählung vorgibt. Nein, sie ist aktiv, hält Jakob in ihren Armen, schaut dabei gefasst mit geschlossenen Augen gen Himmel. Jakob ist der Bewegte, der Erschütterte, der sein Angesicht verbirgt. Derweil tränkt der Gott Abrahams ihre durstigen Seelen (links im Bild). Diese zwei extra getränkten Schafe stehen totemistisch für Rahels und Jakobs Seelen. Was hier vonstatten geht, scheint eine Einweihung zu sein, eine intime Angelegenheit, die nur die beiden angeht, keinen anderen, keinen Zuschauer duldet; darum ist kein weiterer Hirte mehr zu sehen.
Zupackende Unerschrockenheit hat Jakob bereits bewiesen. Sie ist Teil der entschiedenen Mütterlichkeit des 'guten Hirten'. Derjenigen Mütterlichkeit, die sich in Jesus dem Christus vollendet zeigen wird: es ist der Geist Christi, der hier „unter das Dach“ des Adepten Jakob eingeht. Rechts im Bild sieht man die Verheißungen der Mütterlichkeit: die Mutter schenkt Ur-Beheimatung (Baum), Behütung (Turm), Lebensgrundlage (Schafe), und das ganz nah am Quell des Lebens (Wasser) das heißt am Geist Gottes.